Marius

Ein kleines Land in der großen Welt – Geschichten von herrschenden Deutschen, bösen Russen, weltoffenen Esten und widerlegten Klischees

29.11.2012

Ich stehe immer noch unter dem Eindruck von Raketen auf Israel und Bomben auf den Gaza-Streifen, auch wenn dieser Beinahe-Krieg vor neun Tagen erst einmal abgewendet wurde. Es waren die Tage, in denen ich nach längerer Abstinenz begann, wieder über mein Leben und meine Beobachtungen in Estland zu schreiben und diesen Blogeintrag anzufertigen. Es waren auch die Tage, in denen die M23-Rebellen auf Goma in der Demokratischen Republik Kongo vorrückten und Tausende vor der erwarteten Welle der Gewalt flohen. Die Situation dort steht immer noch kurz vor der Eskalation. Und ununterbrochen wogt in Syrien weiterhin ein tödlicher Bürgerkrieg, in dem auch alle großen Weltmächte ihre Fäden ziehen.

Es sind vor allem die Bilder und Live-Berichte, denen wir im Zeitalter der Fernsehkriege nicht entkommen können und die um unsere Gunst ringen. Die jedoch gleichzeitig vorgefiltert werden, verschiedene Medien setzen ihre Prioritäten, kein Mensch kann und will Gaza/Israel, DR Kongo und Syrien in gleicher Länge, mit den gleichen, starken Emotionswallungen auf sich einprasseln lassen. Denn keiner kann unberührt bleiben von verschütteten Häusern, blutenden Kindern, weinenden Familien. Doch mehr noch als im Fernsehen wurde der Gaza/Israel Konflikt in den neuen Sozialen Medien ausgetragen, das Internet wird zum Schlachtfeld um die Meinung der Welt. Es geht um die Fragen, wer gut und wer böse ist, wer sich wehren darf und wer nicht, wer töten darf und wer nicht. Die Welt kommt nicht umher sich eine Meinung zu bilden, viele, unzählige Meinungen aus allen Ecken und Enden der Welt. Manche lauter und bedeutender als andere.

Es ist manchmal sehr schwer, Politikwissenschaft zu studieren. Was ist anderes unsere Aufgaben, als in diesen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren und nüchtern zu analysieren, wie die Situationen zu dem geworden sind, was sie nun sind. Welche vielfältigen Ursachen und Motive dazu beigetragen haben und wie man aufgrund dessen einen Weg für eine (friedlichere) Zukunft skizzieren könnte. Beurteilen aber, einen Schuldigen ausmachen, dass kann nicht Aufgabe der Wissenschaft sein – oder doch? Oder sollten wir dieses Feld überhaupt nicht betreten, ist dies eine Angelegenheit der Medien, der Politiker, der Aktivisten? Sollte die Wissenschaft sich nicht Zeit nehmen für sorgfältige Analysen, ihre Aussagen erst im Rückblick auf bereits geschehene Ereignisse treffen, um nicht die Gründlichkeit ob voreiliger Schlüsse über Bord zu werfen?

Ich habe das Glück, dass wir uns in meinen Seminaren an der Tallinner Universität viel mit aktuellen Geschehnissen, aber auch mit vergangenen Episoden der internationalen Politik beschäftigen. Ziel ist immer, ein breites Hintergrundwissen aufzubauen und gleichzeitig mit Theorien ein Netzwerk spannen zu können, durch das man sich bei seiner Analyse bewegt. Bekannte Schemata erkennen und einordnen, verschiedene Ebenen von Konflikten und Allianzen sehen, trennen und in ihrer Gesamtheit verstehen. Keine leichte Aufgabe, sondern eine sehr schwere, beinahe eine Aufgabe, der man nicht gerecht werden kann. Und ich erinnere mich dann immer gerne an den Satz, mit dem eine hochgeschätzte Dozentin einmal die Aufgabe eines guten Politikwissenschaftlers zusammenfasste: So viele Aspekte der Realität wie möglich erkennen und zu einem Bild zusammensetzen. Nicht mehr, nicht weniger. Vielleicht werden wir einmal sagen, dass es eine gute Zeit war, um Politikwissenschaft zu studieren. Vielleicht stehen uns noch unruhigere Zeiten bevor.

Mein Zimmer, mein Inder

Zumindest in Tallinn scheint es, als seien Land und Leute nie aus der Ruhe zu bringen. Während die Temperaturen sinken und die Tage merklich kürzer werden, fließt das Leben im gewohnten Gang durch die Hauptverkehrsadern, laufen sich Geschäftsleute und Touristen im pittoresken Altstadtkern über den Weg, die einen in Eile auf dem Weg zu einem wichtigen Meeting, die anderen schwebend im Entzücken über die historischen Bauten mit ihrem robusten Mittelaltercharm. Bei mir überwiegt meistens das Entzücken, noch immer mache ich gerne einen Umweg durch die Altstadt, große Entfernungen muss man in der Innenstadt sowieso nicht zurücklegen.

Auch sonst kommt man mit dem öffentlichen Nahverkehr, der ab Anfang nächsten Jahres kostenlos sein wird, problemlos und schnell überall hin und die Pünktlichkeit von Bus und Straßenbahn übertrifft selbst deutsche Genauigkeitsphantasien. Ich habe, nach schwieriger Suche zu Hochzeiten des Tallinner Wohnungsmarktes, eine sehr schöne, kleine, aber feine Zwei-Zimmer-Wohnung gefunden, die ich mir mit einem Inder teile, den ich während der Wohnungssuche kennengelernt habe. Er ist mit der Vision nach Tallinn gekommen, ein eigenes Unternehmen zu gründen und absolviert hier einen Masterstudiengang in Start-Up-Gründung. Als Kind aus gutem, wohlhabendem Hause ist er relativ international aufgewachsen und war schon mehrmals in Europa, sein Kulturschock beschränkte sich demnach auf das diesige, graue Wetter und die Zurückhaltung und Distanziertheit der Menschen im öffentlichen Leben.

Er ist ein toller Gesprächspartner, der mir viel Neues über Indien berichtet hat und mich immer wieder mit seinen indischen Gerichten begeistert. Auch wenn er das Kochen erst hier in Europa lernte, da seine Mutter ihm verboten hatte, die Küche zu benutzen. Er hat mir auch eine interessante Perspektive auf Vegetarier eröffnet, die in Indien ungefähr ein Drittel der Bevölkerung ausmachen: Vegetarier gelten als Standard und wer als Fleischesser davon abweicht nimmt Rücksicht auf die Bedürfnisse der Vegetarier. Eine Umkehrung  der landläufigen Meinung und Esskultur, die in den meisten Teilen der Welt vorherrscht (wobei sich Berlin zu meinem Glück mittlerweile als indischer Außenposten in diesem Sinne etabliert hat).

Die breite deutsche Spur in der estnischen Geschichte und der böse Russe

Auch für die Mehrheit der Esten ist Fleisch essentieller Bestandteil eines guten Essens und wer ein Restaurant mit typisch estnischer Küche besucht stellt schnell fest, dass es viele Ähnlichkeiten mit der geliebten deutschen Hausmannskost gibt. Die Auswahl ist etwas fischlastiger und es gibt sehr eigene estnische Desserts, aber insgesamt sind die Speisen ein guter Spiegel für den deutschen Einfluss auf „Livonia“, wie das Land lange Zeit hieß, als 324 deutsche Adelsfamilien in feudaler Manier über das Territorium des heutigen Estland und Lettland herrschten.

Es waren natürlich keine Deutschen im heutigen Sinne einer einheitlichen Staatsbürgerschaft, die im späten 12. Jahrhundert als Kreuzritter, Kleriker, Händler und Adelsfamilien in diese Gegenden kamen, das Land christianisierten und sich niederließen. Zu dieser Zeit war der Gedanke einer deutschen Nation noch Jahrhunderte entfernt und man identifizierte sich mit den herrschenden Fürsten und Königen der Region, am ehesten noch mit dem lokalen Umfeld. Die sogenannten Deutsch-Balten in Livonia entwickelten jedoch schnell einen starken Zusammenhalt, bildeten sie doch die reiche und gebildete Schicht, während die estnischen Bauerstämme ihre Länderein beackerten und später dann in die Leibeigenschaft genommen wurden, aus der sie sich erst Anfang des 19. Jahrhunderts wieder befreien konnten. Wirtschaftlich florierte das Land während der Blütezeit der Hanse in der ersten Hälfte des letzten Jahrtausends und Tallinn, seit Beginn der deutschen Herrschaft bis 1918 als Reval bekannt, wurde eine reiche Hansestadt. Die Deutsch-Balten behielten ihre Privilegien auch unter schwedischer (ab 17. Jh.) und russischer Herrschaft (ab 18. Jh.). Als Estland sich 1918 nach dem gewonnenen Unabhängigkeitskrieg gegen das neu-kommunistische Russland zum ersten Mal als souveräne Republik konstituierte, verloren die deutschstämmigen Familien Großteile ihrer üppigen Ländereien, doch die Zeit der Deutsch-Balten endete erst mit dem Zweiten Weltkrieg, als Hitler die „Volksdeutschen“ „heim ins Reich“ holte und nahezu alle Verbliebenen unter Stalins Sowjetunion in Sibirien und anderswo verschwanden.

Im Gespräch mit Esten meiner Generation, die die Kriegsgeschichten ja nur aus den Erzählungen ihrer Großeltern und den Geschichtsbüchern und –filmen kennen, ist es für mich, ebenso wie für andere Deutsche, immer wieder irritierend, wie gut Adolf Nazi’s Drittes Reich abschneidet im Vergleich mit Stalins Sowjetunion. Während der Nazi-Besetzung von 1939 bis 1944 hätten die Esten weiterhin unbehelligt leben können, Frauen seien nicht vergewaltigt worden – und die deportierten Juden und Regimegegner, Stichwort erstes „judenfreies“ Land in Europa? Jaja, das habe natürlich stattgefunden, aber…aber dann kamen die Russen, deportierten Esten in Massen mit oder ohne Begründung in entlegene Teile des Riesenreichs, betrieben eine gnadenlose Sowjetisierung und nahmen anschließend dem kleinen Volk seine Freiheit und Unabhängigkeit für 45 lange Jahre. Gegenüber dem übergroßen Übel der sowjetischen Besetzung wird die Bedrohung, die Deutschland damals für die Welt darstellte, zum geringeren Übel und ich finde mich in solchen Diskussionen in einer ungewohnten Rolle wieder, möchte ich doch auf die ungeheure Größe des Nazi-Wahnsinns hinweisen und ernte oft nur – lahme Zustimmung und Schulterzucken. Wir sind alle Kinder unserer Geschichtsschreibung und wer die kollektive Erinnerung kennt, kann auch aktuelle Denkweisen besser verstehen.

Keine Wunschhochzeit – Die Sache mit den Russen und den Esten

Dass eine Kluft und sehr oft Ressentiments zwischen Esten und russischstämmigen Esten bestehen, ist nicht wegzudiskutieren. Es gibt Esten in meinem Alter, die glauben, dass eine russische Invasion jederzeit bevorstehen könnte. Es gibt russischstämmige Esten in meinem Alter, die sich als Bürger des großen Landes Russlands fühlen und es nicht für nötig erachten, fließend Estnisch zu sprechen. Es gibt die „russischen“ Wohnviertel in Tallinn und die anderen, und es gibt Narva, an der Grenze zu Russland, die viertgrößte Stadt des Landes, in der die absolute Mehrheit der Einwohner russischstämmig ist.

Von Beginn an und jedes Mal wieder, wenn Gespräche sich um das Thema Esten und die russische Minderheit in Estland drehen, werde ich mit Vorurteilen, Mutmaßungen und sehr patriotischen Meinungen konfrontiert (ich habe diese Gespräche bisher nur mit Esten geführt) und es ist mir unmöglich, ein angemessenes Urteil zu bilden.

Zu Zeiten der Sowjetunion mussten/konnten viele Russen nach Estland ziehen, um zu arbeiten, und so weist die Statistik heutzutage aus, dass ein Viertel der estnischen Staatsbürger einen russischen Hintergrund hat. Mit der estnischen Unabhängigkeit 1991 fing ein neuer Lebensabschnitt an, den vor allem die älteren Russen mit dem Aufbau von Parallelstrukturen begingen, während die junge estnische Republik zunächst Russisch als Amts- und Verkehrssprache verbannte und anschließend mit den Beitritten zu EU und NATO einen möglichst hohen Zaun zog, um ihre Staatsgrenzen zu schützen und zu zementieren. Gleichzeitig wallte das estnische Nationalgefühl auf und wurde kräftig genährt und man definierte sich als Este auch in Abgrenzung zu den Russen.

Mir scheint, dass sich bis heute am starken estnischen Patriotismus nicht viel geändert hat. Mir erscheint es auch schwer, sich als Este aus russischem Hause einfach in diesen Freudentaumel einzureihen und die eigene Identität in Teilen umzudeuten. Allerdings wächst mit der jungen Generation auch wieder eine neue Perspektive auf diesen Konflikt heran und mit ihr die Hoffnung darauf, dass gesellschaftliche Spannungen abnehmen. Und man bestätigt mir immer wieder einstimmig, dass auch das Bildungsniveau den Grad von sturer Überzeugtheit von der eigenen Position bestimmt, sodass eine gute Schul- und Universitätsbildung das ihre tut. Schließlich sind die ethnischen Unterschiede zumindest politisch nicht ebenso manifestiert, denn es gibt keine „Russen“partei im estnischen Parlament und alle Parteien vertreten mehr oder weniger auch die Interessen ihrer russischstämmigen Wähler. Bis auf einige Tage wilder, teils gewalttätiger Demonstrationen der Russischstämmigen in Tallinn, als ein altes sowjetisches Kriegdenkmal aus dem Zentrum an den Stadtrand versetzt wurde, sind die Beziehungen jedoch friedlich und vom ökonomischen Boom bis vor einigen Jahren profitierten zwar bei Weitem nicht alle Esten, jedoch Vertreter beider ethnischer Gruppen.

Faszinationen der estnischen Sprache

Neben Estnisch und Russisch begegnet mir im estnischen Leben auch viel Deutsch – auf Hinweisschildern in Bussen und Straßenbahnen, auf Filmfestivals, auf vielen Produkten des täglichen Lebens in den Einkaufsläden. Die deutschen Handelsbeziehungen mit Estland florieren, ebenso die kulturelle Präsenz. Es gibt natürlich ein Goethe-Institut, ein deutsches Kulturinstitut, einen deutschen Lesesaal in der Nationalbibliothek, eine deutsche Kirchengemeinde, Deutsch als populäre Fremdsprache in den Schulen und ein Germanistik-Institut an meiner Uni.

Dort habe ich auch meine Sprachpartnerin gefunden, eine Estin, mit der ich mich einmal in der Woche treffe, um mit ihr Deutsch zu sprechen und gleichzeitig meine Estnisch-Hausaufgaben zu machen. Sie ist sehr höflich und ruhig, teilt ihr Wohnheimzimmer mit zwei anderen Mädchen, spricht sehr gut Deutsch mit leichtem bayrischem Akzent, weil sie in München lebte, und möchte eigentlich Physiotherapeutin werden, was in Deutschland einfacher ist als in Estland. Wir stellen bei unserem Sprachaustausch beide fest, dass die Regeln der eigenen Sprache ein großes Rätsel sind, die andere Sprache aber sehr viele, sehr interessante Regeln und Konstruktionen hat.

Besonders faszinierend am Estnischen finde ich die 14 verschiedenen Fälle, die viele Funktionen übernehmen, die Präpositionen bei uns im Deutschen besitzen. Saksamaa – Deutschland, Saksamaal – in Deutschland, Saksamaalt – aus Deutschland, Saksamaale – nach Deutschland, etc. Ein sehr logisches System, das jedoch ein konsequentes Umdenken erfordert. Interessant ist auch, dass Estnisch eine weitgehend geschlechtslose Sprache ist, d.h. es gibt keine männliche oder weibliche Form von Substantiven und es gibt keinen Unterschied zwischen er und sie. Beides ist „ta“ und wenn Esten z.B. von neuen Bekanntschaften sprechen, dann kann es minutenlang unklar sein, wie man sich die Person denn schon mal vor dem inneren Auge vorstellen sollte. Es wenn der Name fällt, löst sich das Rätsel.

Die Erasmus-Welt – eine Gemeinschaft mit einfacher Regel

Bekanntschaften habe ich außer meiner Tandem-Partnerin noch viele weitere gemacht während meiner Zeit hier. Natürlich, zumeist bewege ich mich im Kosmos der Erasmus-/Ausländischen-Studenten, weil es spannend ist, weil es bequem ist und weil diese Gemeinschaft eine sehr einfache Regel hat: Bist du Erasmus-Student, dann bist du integriert, ohne einen Blick auf Alter, Schönheit, Nationalität, Hautfarbe zu werfen. Die Erasmus-Identität überwölbt alle bisherigen Sozialisierungen und bildet ein starkes Band zwischen Fremden. Und die Stadt und Uni ist klein genug, um Leute wieder und wieder zu sehen, man kennt und erkennt sich und trifft sich neben der Uni beim Einkaufen, in der Bahn, im Kino, auf Partys, im Nachtleben, bei anderen Freunden. So besteht mein Bekanntenkreis nun aus Deutschen, Belgiern, Franzosen, Polen, Italienern, Österreicherinnen, Finnen, Georgiern, Südkoreanerinnen, Chinesen, einer Japanerin und einem Litauen. Viele Bekanntschaften sind natürlich oberflächlich, aber auf eine angenehme Art und Weise im Sinne von Lebensabschnittsfreundschaften. Man teilt seine Erfahrungen der Erasmus-Zeit gemeinsam und kann dann auch wieder getrennte Wege gehen. Aber es gibt auch immer Menschen, mit denen man länger verbunden bleiben möchte, und auch solche habe ich hier getroffen. Die Zukunft wird dann zeigen, was aus diesen Plänen werden wird.

Eine dieser wirklichen Freunde ist meine estnische Tutorin geworden, die anfangs mein Einleben hier deutlich einfacher gemacht hat und mit der ich jetzt immer noch viel zusammen mache. Auch mit anderen Esten habe ich privat etwas zu tun, es sind ebenfalls Stundenten an meiner Uni und allesamt mit internationaler Erasmus-Erfahrung. Ich merke jedoch, dass das allgemeine estnische Interesse an „Freunden auf Zeit“, die wir Erasmus-Studenten ja in erster Linie sind, stark begrenzt ist. Aus meiner Sicht ein sehr verständliches Verhalten, ich habe in Berlin mit Erasmus-Studenten auch nur sehr wenig zu tun gehabt und ich denke, erst diese, meine eigene, Erfahrung könnte das für die vielleicht Zukunft ändern.

So ist mein Klischee-Este immer noch nur Teil der Reiseführer und ich kann das für kalte, nordische Stereotyp für mein Umfeld nicht bestätigen. Im Gegenteil bin ich immer wieder erstaunt, wie gut man mit Menschen hier in Kontakt kommen kann, vor allem auch, weil fast alle Englisch sprechen. Aber man muss ja auch nicht immer gleich Freundschaften schließen und insofern fühle ich mich sehr wohl, sehr gut aufgehoben in Tallinn, in meiner Uni und mit meinem Umfeld. Estland war die richtige Wahl, davon bin ich heute mehr überzeugt denn je!

Nach diesem langen Bericht will ich für den Moment Schluss machen und in wenigen Wochen weitere Geschichten erzählen und von weiteren Beobachtungen berichten. Vor allem über meine Reisen, innerhalb Estlands, nach St. Petersburg, Helsinki und Lappland. Aber auch über den neuen Szenebezirk Kalamaja und eine Rentnerin, die lieber Kinokarten als Feuerholz kauft.

Grüße aus dem verschneiten Tallinn,

Euer Marius

PS: Hier ein paar Fotos aus Tallinn

Blick auf die Talliner Altstadt mit Teilen der alten Befestigungsanlage und der Olaf-Kirche, die höchste Kirche in Tallinn. Im Hintergrund ist der Hafen und die Ostsee zu sehen.

Alt und neu – im Vordergrund die Altstadt, im Hintergrund das moderne Business-Viertel mit seinen Hochhäusern

Typische Gasse in der Altstadt

Der Freiheitsplatz am Rande der Altstadt, wo Estland den gewonnen Unabhängigkeitskrieg von 1920 feiert

Die Skyline von Tallinn

Tallinn bei Nacht

Willkommen in Estland – Tere tulemast Eestis!

26.08.2012

Mittwochabend, 22. August, Zentraler Omnibusbahnhof Berlin. Noch sind die Beine schmerzfrei, der Rücken kräftig, der Nacken entspannt. In Erwartung von 20 Stunden Busfahrt durch Polen und das Baltikum eine beruhigende Ausgangssituation. Einen Tag später steige ich steif aus dem Bus, schultere einen Treckingrucksack, zwei Taschen und ziehe meinen Koffer quälend langsam über Kopfsteinpflaster durch die pittoresken Gassen der Rigaer Altstadt. Eine kurze Atempause will ich mir hier gönnen bevor es am nächsten Tag weiter geht zum eigentlichen Ziel meiner Reise – Tallinn, Hauptstadt von Estland und nun für ein halbes Jahr mein neues Zuhause, während ich an der Talinna Ülikool Politikwissenschaften studiere.

In der kühlen Abenddämmerung lasse ich auf einem der schönen Plätze im Zentrum von Riga noch einmal die Busfahrt Revue passieren: Ein unruhiges Einschlafen im überhitzten Bus. Eine Zigarettenpause im polnischen Nirgendwo bei klarer Sternennacht, die mich mit ihrer strengen Kälte überrascht und mir wieder deutlich  bewusst macht, wohin ich mich eigentlich auf den Weg begebe. Ein Geiger aus Zwickau, der einen litauischen Maler besucht. Ein ständiger Wechsel von heruntergekommenen Orten und modernen Anwesen in Polen. Eintönig agrarische Landschaften in Litauen und mit Kaunas eine Stadt, die mit riesigen Industrieanlagen, allgegenwärtig bröckelndem Putz, aber noch einigen gut erhaltenen, mittelalterlichen Gebäuden und Kirchen sehr dem Klischeebild der baltischen Post-Sowjet-Zeit entspricht.

Auf den endlosen, oft noch im Bau befindlichen Landstraßen irgendwo zwischen Litauen und Lettland, habe ich dann meine „Lesereise Estland“ ausgelesen und ein klares Bild von „dem“ Esten: Nordisch zurückhaltend und stolz auf die eigene Geschichte und Tradition, in der Natur verwurzelt und doch technologisch höchst versiert, eben mit zunehmender Modernisierung ein Gratwanderer zwischen Einsamkeit und globaler Vernetzung. Noch mit diesen Gedanken im Kopf schlage ich mein Estnisch-Selbstlernbuch auf und vertiefe mich in die Aufgaben, als mich von links mein Gangnachbar, ein unauffälliger Mann mittleren Alters, anspricht: Kas sa räägid eesti keelt? Sprichst du Estnisch? – Natuke. Ein wenig. – Kas sa pärit oled Saksamaalt? Kommst du aus Deutschland? Saaksamalt, Saaksamalt. Jaja, Deutschland ist schon richtig, nur hören hier leider meine Estnischkenntnisse auf. Kein Problem für meinen Gesprächspartner, der umstandslos ins Englische wechselt, neben Finnisch, Russisch und Estnisch die vierte Sprache, die er fließend beherrscht. Er sei Geschäftsmann, arbeite für eine estnische IT-Firma und reise viel im Baltikum. Ohne, dass ich viel nachfragen muss erzählt er von sich und seinem Leben, von der unglaublichen Technologisierung Estlands, die mittlerweile sogar die Parlamentswahlen und Klassenbücher online zugänglich gemacht hat, und er gibt sich als überzeugter Wirtschaftsliberaler zu erkennen, der Sparprogramme begrüßt und findet, dass kein Staat über seine Verhältnisse leben solle.

Das klassisch liberale Argument der schwäbischen Hausfrau, die ihre Sachen beisammen hält und immer schön ihre Schulden bezahlt bzw. am besten nie Schulden aufnimmt. Die Unterschiede zwischen Hausfrauen oder Hausmännern, die sich als winziges Wirtschaftssubjekt nur um die eigenen Haushaltseinkommen und –ausgaben kümmern, und einem souveränen Staat, der immerhin über enorme Finanzmittel und ein ganzes Arsenal von wirtschaftspolitischen Instrumenten verfügt und verpflichtet sein sollte, den reibungslosen Ablauf von Gesamtwirtschaft und Arbeitsmarkt zu sichern, wischt er dabei geflissentlich beiseite. Auch die sozialen und demokratischen Desaster von extremen Sparprogrammen, wie sie derzeit in Griechenland zu beobachten sind, sieht er als notweniges Übel an. Mit seiner Meinung steht er dabei nicht alleine. Es ist auch im Groben die Position der liberalen Reformpartei, die in der gegenwärtigen Regierungskoalition Estlands die Mehrheit und damit den Ministerpräsidenten und mächtigsten Mann im Staat, Andrus Ansip, stellt. Hier bahnt sich schon ein sehr kontroverses Diskussions- und Studienfeld an, das hoffentlich so auch in meinen Universitätskursen aufgegriffen wird.

Was mir während des ganzen Gesprächs auffällt, ist sein starker Patriotismus: Der Stolz auf seine estnischen Wurzeln und die Art und Weise, wie Estland sich als selbstständiges Land nach jahrzehntelanger Fremdherrschaft in der Welt behauptet hat. Noch immer ist das Verhältnis zu Russland angespannt und spiegelt sich wieder im Umgang der estnischen Mehrheitsbevölkerung mit der ethnisch russischen Minderheit, die immerhin ein Viertel der gesamten Bevölkerungszahl ausmacht. So berichtet mir mein Gesprächspartner von dem denkwürdigen Tag in 2007, an dem ein zentral im Tallinner Zentrum beheimatetes sowjetisches Kriegsdenkmal an den Stadtrand auf einen Soldatenfriedhof verlegt wurde. Die Folge waren tagelange Proteste von Teilen der russischstämmigen Esten und gewaltsame Zusammenstöße mit der Polizei. Doch dieser Schritt sei einfach nötig gewesen, man könne als eigenständiges Land nicht mehr das Schwenken von kommunistischen Flaggen im Stadtzentrum dulden. Die Zeit der Besatzung sei vorbei, man sei nun Herr über das eigene Schicksal. Es bleibt abzuwarten, wie die Beziehungen sich in Zukunft weiterentwickeln. Zumindest die junge Generation ist mit weniger historischem Ballast und im Gegensatz zu früheren Generationen bilingual aufgewachsen, sodass Integrationsbestrebungen auf fruchtbareren Boden treffen sollten.

Als der Bus dann am Rigaer Busbahnhof stoppt, deutet mein estnischer Mitreisender beim Aussteigen noch in Richtung des wolkenlosen Himmels und der strahlenden Sonne. Hier im Baltikum erlebe man eben alle Jahreszeiten von ihrer besten Seite. Nur der Winter könne etwas milder sein. Wir lachen beide und verabschieden uns.

Altstadtgasse in Riga

 Freiheitsdenkmal in Riga Park in der Innenstadt von Riga

Tallinn erwartet mich mit offenen Armen

Einen Tag später sitze ich wieder im gleißenden Sonnenlicht und warte auf den Bus nach Tallinn. Von Riga aus führt der Weg am Ostseeufer entlang durch wunderbar nordische Wald- und Wiesenlandschaften, mit verstreuten Gutshöfen rechts und links der Straße, die wie Farbtupfer in die Landschaft gemalt erscheinen. Kurz hinter der Grenze zieht jedoch schnell eine dunkle Wolkendecke auf und die Sonne bahnt sich erst kurz vor Tallinn wieder vereinzelt ihren Weg durch die Regenschleier.

Nach meinen ersten Wochenende in Tallinn lässt sich nun im Rückblick sagen, dass ich mit der der Anreise per Bus und meinem Anreisedatum eine Woche vor Beginn der Universitäts-Orientierungstage zwei sehr gute Entscheidungen getroffen habe: Es war ein langsam gleitender Übergang von meiner Berliner Welt in die neue Tallinner Umgebung und ein sehr sanftes Ankommen dank der tollen Betreuung durch die vier Mädels des International Club der Tallinna Ülikool, die sich um neu angereiste Erasmus-Studenten kümmern.

Ich wurde vom Busbahnhof abgeholt und zum Hostel gebracht, abends durch die Tallinner Innenstadt geführt und habe Studentenwohnungen, Bars, Klubs und ein Kunstfestival in einem verlassenen Fabrikgebäude kennengelernt. Dazu eine versteckte Aussichtsplattform auf dem die Stadt überragenden Domberg, von der aus man einen atemberaubenden Blick auf die Tallinner Unterstadt mit ihren berühmten Kirchen, Kopfsteinpflastergassen, mittelalterlichen Gebäuden und im Hintergrund den glitzernden Hochhäusern vor der Hafenbucht hat. Ich habe ausländische Studierende getroffen, die dank jahrelanger Praxis beinahe perfekt Estnisch sprechen, und ein wundersames Erlebnis in einer Kellergewölbekneipe gehabt, in der ein betrunkener Russland-Este urplötzlich aus seinem Schlaf der Gerechten aufwachte, in einer Mischung aus Englisch, Russisch und Italienisch die Welt und besonders Estland verfluchte, ein weiteres Pihtla, das Starkbier von der größten estnischen Insel Saalemaa, leerte und ermattet in seine Schlaf-Starre zurückfiel.

Und ich habe mein „Esten“-Klischee noch weiter korrigieren müssen: Nicht nur Geschäftsmänner, sondern auch Universitätsstudenten sind aufgeschlossen, kommunikativ und können tatsächlich eine ganze Reihe von Emotionen zeigen. Eigentlich keine Überraschung, aber zumindest eine vorerst beruhigende Antwort auf die Frage: Werde ich in diesem halben Jahr überhaupt mit Esten in Kontakt kommen oder nur in meiner Erasmus-Welt leben? Der Aspekt der Internationalität scheint gerade bei der jungen, städtischen Generation gegenüber den einsamkeitsgewohnten, naturverbundenen Charakterzügen zu überwiegen. Meine Stichprobe ist natürlich verzerrt, aber umso mehr bin ich nun gespannt auf die Kontakte, die sich in Zukunft ergeben werden: In Uni-Kursen, in Sportvereinen, auf Reisen, in meiner neuen Nachbarschaft…

Das spricht meine zurzeit wichtigste Baustelle an: Die Wohnungssuche. In dieser Hinsicht bin ich bewusst „ins Blaue gefahren“ und zunächst in ein Hostel gezogen. Von hier aus habe ich, mit etwas Vorarbeit aus Deutschland, meine Suche gestartet und musste feststellen, dass der Wohnungsmarkt heiß umkämpft und die Informationslage äußerst dürftig ist. Bisher habe ich eine Wohnung im Plattenbaubezirk von Tallinn besichtigt, für die eine Estin einen Mitbewohner sucht. Ansonsten warten in den nächsten Tagen noch einige Objekte auf mich und mein Ziel ist es, bis zum Beginn der Orientierungstage am kommenden Mittwoch eine Bleibe gefunden zu haben. Einzige Bedingung: Weitgehende Zentrums- und Universitätsnähe. In diesem Bereich ist die Versorgung mit dem öffentlichen Nahverkehr besonders gut – und ab Mitte September für Ortsansässige, wie ich bald einer sein werde, sogar kostenlos.

Die nächste Woche verspricht also, noch mal viele Umbrüche, Umstellungen und neue Begegnungen bereit zu halten. Alles andere als Alltagsroutine auf jeden Fall. Tallinn hat mich in seinen Bann gezogen und ich will mehr sehen, mehr hören, mehr wissen und verstehen.

4 Antworten zu Marius

  1. Liubook schreibt:

    Toller Text Ecki, plant da jemand ein zweites Buch nach dem legendären Beststeller des jungen Marius E.? 😉
    Deine stundenlange Hinfahrt klingt, trotz der damit verbundenen Strapazen, genau richtig um Berlin hinter dir zu lassen und im wahrsten Sinne des Wortes im hohen Norden anzukommen. Dass du schon im Bus deine Estnisch-Kenntnisse ausprobieren konntest, passt da natürlich schön ins Bild.
    Meld dich, sobald du eine Bleibe gefunden hast, Katjas Freundin kennt leider niemanden, wie sie ihr schrieb. Allerdings scheint ihr da oben ja gut aufgehoben zu sein.

    Alles Gute für die ersten Tage!
    Micha

  2. Christine schreibt:

    Oh man, deine Prosa erinnert mich an die Schule und die legendäre Kurzgeschichte zum Edward Hopper Bild in der 8. Klasse 🙂 Ich bin gespannt auf weitere Einträge, werde dir auf jeden Fall „followen“

    • Juliane schreibt:

      Ja, Christine 🙂 Das war auch mein Gedanke als ich die Berichte gelesen habe. Das klingt einfach nach Marius :-). Ich bin gespannt auf weitere Erzählungen.

  3. Pingback: Herrschende Deutsche, böse Russen, weltoffene Esten und widerlegte Klischees | ottosuhrt

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